Seminar-Reise nach Sainte-Marie de la Tourette, Éveux, Frankreich
Ungewöhnlich ist es nicht, wenn Architekten den Dominikaner-Konvent Sainte-Marie de la Tourette besuchen. Schließlich zählt das Kloster als einer der zentralen Bauten des Brutalismus zu den bedeutendsten Gebäuden, die der Architekt Le Corbusier auf der Welt geschaffen hat. Ungewöhnlich ist dagegen, wenn Architekten im Kloster La Tourette zusammenkommen, um sich dort intensiv mit Themen wie „Mensch und Gesellschaft“ oder „Moral, Verantwortung und Ethik in der Architektur“ zu befassen.
Genau dies haben die Mitarbeiter des Architektur-Büros Schmale an einem Wochenende im November gemacht. Inspiriert wurden sie sowohl vom Weltbild eines dienenden Ordens, als auch von der in-Beton-gegossenen Wahrnehmung der Welt mit ihrer innewohnenden Ordnung des Genies Le Corbusier.
Im Team haben sie sich mit der intellektuellen und spirituellen Entwicklung des Menschen seit Beginn der Steinzeit befasst. So kamen sie zu dem Schluss, dass der Mensch immer innerhalb der Beziehungen und Abhängigkeiten zur Gesellschaft und Umwelt, in welcher er lebt, betrachtet werden muss. Die vielen Dimensionen und Beziehungen speziell des Architekten als Teil von Gesellschaft und Umwelt wurden ausgearbeitet, so zum Beispiel zum Auftraggeber, Lieferanten, der natürlichen Umgebung, Geschichte der Region. Daraus ergibt sich die Chance, so noch kreativer und verantwortungsbewusster Architektur erschaffen zu können, welche diesen Beziehungen gerecht wird und sich optimal in den Kontext einfügt.
Von der Seminar-Leitung sanft geführt wurden die verschiedenen Ebenen der Verantwortung in der Architektur herausgearbeitet – und immer im praktischen Zusammenhang betrachtet und mit Fallbeispielen untermauert.
Das von Pylonen getragene und scheinbar auf dem Hang schwebende Kloster, die meterlangen und die Natur in Szene setzenden Glasfronten, die perfekt durchdachte Raumökonomie, welche jeder Teilnehmer in seiner Zelle „erleben“ konnte – all dies (und noch mehr) stellte einen perfekten Rahmen dar, um ohne Ablenkung die Augen und Gedanken auf das Wesentliche zu richten.
Auch der Besuch verschiedener Andachten im Kloster durfte nicht fehlen – und trug zum bleibenden Eindruck dieser Tage bei. Die Gesänge der Dominikaner-Brüder berührten ebenso wie der voluminöse sakrale Raum an sich. Auch wenn man selber vielleicht gar nicht an eine Religion oder einen personalen Gott glaubt, so schafft es die Architektur der Kirche mit ihrer überwältigenden Größe und dem Spiel von Licht, Raum und Farbakzenten, dass der Mensch sich angesichts der Größe dessen, was ihn umgibt, neu orientieren und positionieren möchte.
Diese beeindruckende Seminar-Reise stellt jedoch nur einen Meilenstein in einer Entwicklung dar, die das Büro Schmale seit einiger Zeit aktiv unternimmt. Sie war eine konzentrierte Sensibilisierung angesichts der moralischen Verantwortung, die jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin eines Architektur-Büros trägt, indem er oder sie mit den zu schaffenden Bauwerken in das Leben unzähliger Menschen auf verschiedensten Ebenen eingreift.
Fiona Missaghian-Moghaddam